Sicherheit
oder Freiheit? Über Solidarität im Zeichen der Corona-Krise
von Ursula Baatz
Gerade als die erste Lockerung des Lockdowns begann, rief
mich eine Bekannte mit Verzweiflung in der Stimme an. Ob sie wohl verrückt
geworden sei – sie verstehe nicht, warum die Baumärkte aufmachen dürften, aber
sie weder zum Tanzen noch in Yogastunden noch in die Kirche gehen dürfe. Sie
fühle sich dadurch eingesperrt und bevormundet, man verlange von ihr Solidarität
im Namen der Sicherheit und nehme ihr die Freiheit weg. Ohne es zu
beabsichtigen, traf sie mitten in die Stimmungslage der letzten Wochen –
bestehend aus Angst, Bedürfnissen nach Kontrolle und Sicherheit, aus Ärger und
Wut, aber auch aus Sehnsucht nach Freiheit und Lebendigkeit.
Die folgenden Zeilen bemühen sich, einige der mit einer
Pandemie verbundenen Probleme zu benennen, offerieren aber keine Lösungen.
Corona – die Statistik des Virus
Es sitzt in Tröpfchen, auf Oberflächen und verbreitet sich
durch die Luft – doch genau kennt man COVID 19 nicht. Das Virus ist ein
unpersönlicher, unsichtbarer, aber massenhafter „Akteur“, der weniger als individuelle
Entität, denn als statistische Größe in Erscheinung tritt. Dabei sitzt das
Virus real auf Türschnallen, in Wäschebündeln, bewegt sich in Supermärkten und
Gasthäusern, ist nicht zählbar, dafür zahlreichst - eine scheinbare
Omnipräsenz, bedrohlich in seiner Wahrscheinlichkeit. Auch wer angesteckt wird,
ist ein Fall für die Statistik. Doch ist niemand statistisch krank; krank wird
eine Person, ein Lebewesen. Was aber für Virologen wie auch Politiker zählt, sind
Durchschnittswerte und Statistiken. Große
Mengen von Einzelschicksalen werden zu einer unheimlichen Masse, die Angst
macht. 71 000 Tote in den USA, davon mehr als 26 000 (Stand 7.5.) allein in New
York, so viele, dass die Leichenhäuser nicht ausreichen und man die Toten in
Kühltransporter unterbringen muss bis zum Begräbnis – das ist die eine,
persönliche Seite. Die andere, statistische: in New York leben mehr als 21
Millionen Menschen, die Corona-Tote sind etwas mehr als ein Tausendstel der
Gesamtbevölkerung; bei 328 Millionen US-Amerikanerinnen und -Amerikaner sind
etwa 71 000 Covid 19-Toten (Stand 7.5.) ein verschwindender Bruchteil im
mehrstelligen Promille-Bereich.
In der Statistik allerdings manifestiert sich diese
plötzliche Zunahme an Toten als drastischer Anstieg der Sterblichkeitskurve
nach oben. Warum an manchen Orten Tausende sterben und an anderen Orten nicht,
gehört zu den ungeklärten Ereignissen rund um das Virus. Doch droht ein
massenhaftes Sterben, beginnt der Staat zu agieren, da eine der Aufgaben des
Staates der Schutz des Lebens seiner Bürgerinnen und Bürger ist – sie machen
das „Lebend-Kapital“ an Arbeitskraft aus. Geburts- und Sterbestatistiken spielen
seit dem 18. Jahrhundert für staatliches Handeln eine wesentliche Rolle, wie
Michel Foucault zeigte. Die Vorschriften des Lockdowns nehmen nur Rücksicht auf
den Erhalt des „nackten Lebens“ (Agamben) und nicht auf persönliche Bedürfnisse
und Notwendigkeiten. Appelle an eine allgemeine Solidarität ebenso wie
strafrechtliche Konsequenzen bei Nichtbefolgen sollen einen massenhaften Tod
verhindern, nicht mehr und nicht weniger. Der Lockdown ist eine politische
Entscheidung aufgrund einer medizinischen Indikation, die ihrerseits auf
Statistiken beruht. Wie jeder politische, pädagogische oder medizinische
Eingriff hat auch der Lockdown Nebenwirkungen, die vielleicht unbedacht und
unerwünscht, aber jedenfalls unvermeidlich sind.
Nebenwirkungen: die Paradoxien der Lockdown-Solidarität
Die Solidarität, die der Lockdown einfordert, ist eine kontingente,
zufällige Solidarität– eine Solidarität nicht aus Grundsätzen oder als Haltung,
sondern aus Zwang (Höffe 1999).
Doch werden gleichzeitig mit der Forderung nach Solidarität die
vielfältigen Formen des Austauschs zwischen Menschen eingefroren.
Der gesellschaftliche
Austausch, der über Geld funktioniert, stagniert – Arbeitsleistungen in
Geschäften, Restaurants, Hotels, Museen, Konzertsäle, Sporthallen etc. können
nicht stattfinden, weil die Orte, an die sie gebunden sind, nicht mehr betreten
werden dürfen. Was floriert, ist die ortlose Arbeit, sprich alles, was sich
digitalisiert gegen Geld eintauschen lässt. Doch der gesellschaftliche
Wohlstand braucht mehr als Home-Office, regen Online-Handel und einigermaßen
funktionierende Lieferketten. Wohlstand entsteht durch Dienstleistungen – durch
Arbeit, die ein Miteinander braucht. Unter dem Vorzeichen der erzwungenen
Solidarität dürfen Nähe und Kommunikation aber nicht stattfinden. Kaffeehäuser
und Restaurants müssen schließen, der Friseur und die Pediküre sperren zu, Sportplätze
und Kindergärten, Schulen aller Art sind geschlossen, Yogastunden und
Tanzworkshops dürfen nicht stattfinden, Orchester, Punkbands, Theater usw. dürfen
weder miteinander noch für Publikum spielen, Bibliotheken und Museen müssen
sperren.
Dauert dieser Zustand zu lange, hat dies gravierende Folgen.
Biopolitische Entscheidungen der Vergangenheit zielten auf den Schutz der
Bevölkerung zur Wahrung und Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums einer
beginnenden Industrialisierung. Doch in einer entwickelten
Dienstleistungsgesellschaft demolieren biopolitische Entscheidungen nach der
Art des Covid-19-Lockdowns den gesellschaftlichen Reichtum – den materiellen
wie kulturellen Wohlstand. Wenn zudem Kultur von Entscheidungsträgern als
Touristenattraktion gesehen wird, beschleunigt das den Zerfall.
Lockdown heißt: alle bleiben daheim, niemand soll raus. Rein
soll aber auch niemand. Solidarität unter dem Vorzeichen des Covid-Virus heißt
Kontakte und Nähe meiden, damit sich das Virus nicht überträgt. Das schützt statistisch
gesehen das blanke Leben, aber forciert konkrete Gewaltstrukturen. Zum Beispiel
in der Familie, wo das erzwungene räumliche Naheverhältnis für Frauen und
Kinder lebensgefährlich werden kann. Oder wenn notwendige medizinische
Behandlungen nicht durchgeführt werden können, weil sich alles aufs Virus
konzentriert. Zum Schutz ihres Lebens werden Ältere als „Risikogruppen“
stigmatisiert und von Nähe und Zuwendung ausgeschlossen. Hinter Glasscheiben
und Mauern festgesetzt, verlieren sie die emotionale Zuwendung, die Menschen
nachweislich zum Leben brauchen. Begründung: damit es nicht zu viele Kranke auf
der Intensivstation und zu viele Tote gibt.
Ist es gerechtfertigt, wenn eine Tochter ihre krebskranke Mutter
besucht, deren Zustand sich zu Beginn der Covid19-Krise so dramatisch verschlechterte,
dass sie ins Spital musste? Ist es verantwortungslos, wenn sie ihre Hand
berührt?
Plötzlich werden Grenzen unüberwindbar, von denen man seit
langem angenommen hat, es gebe sie nicht mehr. Staatsgrenzen trennen Lebenspartner
durch Straßensperren, verhindern Freundschaften und Hilfeleistungen: die
Corona-Solidarität gilt nicht für hilfsbedürftige Nachbarn auf der anderen
Seite der Grenze.
Die martialische Metapher vom „Kampf gegen das Virus“ ist
gesellschaftspolitisch passend. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg sind in den
europäischen Demokratien Notstandsgesetze angewendet worden, die die Rechte der
BürgerInnen wesentlich einschränken. Man hatte schon vergessen, dass der Staat
– der doch so schlank sein wollte - stark zulangen kann.
Unter dem Eindruck der Bedrohung von Leib und Leben durch
den Virus wird die Autonomie der BürgerInnen aufgehoben durch
Kontaktbegrenzungen, die quer durch familiäre Beziehungen gehen. Demokratie als
Lebensform, in der die Privatsphäre der BürgerInnen dem Zugriff des Staates
entzogen ist, gerät in Verdacht, unsolidarisch zu sein. Das zeigt sich nicht
zuletzt in der Frage des Datenschutzes. Hat der Schutz von Leben, allgemein
gesprochen, Vorrang vor dem Schutz von Freiheits- und Persönlichkeitsrechten
wie Privatheit und Nicht-Diskriminierung?
Mit der Angst vor Ansteckung, der Angst vor der großen Zahl
von Toten – „so, wie in Italien“ - werden Notstandsverordnungen gerechtfertigt.
Der „Kampf gegen das Virus“ zerstört menschliche Nähe, reißt - wie kaum
vernarbte Wunden - alte Nationalstaatsgrenzen auf, und ist, wie die deutsche Bundeskanzlerin
Merkel sagte, eine Zumutung für die Demokratie. Es ist ein Paradox – aus der
Sorge ums Überleben der BürgerInnen wird das, was das Leben der BürgerInnen zum
Guten Leben macht, paralysiert - Arbeit und Wohlstand, Nähe, Freundschaft und
Hilfe, Freiheit und Demokratie.
Nach Corona: Sicherheit oder Freiheit?
Das Virus bringt Tiefenschärfe ins Bild – durch Covid-19
werden die Bruchlinien der Gesellschaft deutlich. Zunächst geht es um Konflikte zwischen
Rechten – dem Recht auf Leben und den Schutz des Lebens, der in diesem Fall nur
kollektiv zu gewährleisten ist und dem Recht auf Freiheit und Schutz der
Persönlichkeit. Notwendig sind Prozesse des Abwägens. Das Recht auf Leben und
Gesundheit ist eines der Menschenrechte und ein Kernrecht der europäischen
Menschenrechtskonvention. Doch folgt daraus nicht, dass Staaten alle anderen
Rechte dem Recht auf Leben unterordnen müssten, wie Michael Lysander Fremuth,
Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Menschenrechte festhielt. „Das tun
wir ja auch sonst nicht. Wir nehmen es in Kauf, dass Menschen an der Influenza
oder im Straßenverkehr sterben. Der Schutz des Lebens ist nicht absolut. Die
Frage, welches Schutzniveau wir haben wollen, ist immer auch eine Frage des
gesellschaftlichen Diskurses.“ (https://science.orf.at/stories/3200706)
Die gesellschaftliche Debatte um das Verhältnis von
Sicherheit und Freiheit kann sich jedoch nicht nur auf Konflikte um
Rechtsansprüche beschränken.
Ebenso und intensiver geht es um Grundbedürfnisse, denen die
Menschenrechte entsprechen. Als sehr fundamentale Grundbedürfnisse können Überleben,
Wohlergehen, Freiheit und Identität gelten (Galtung 1998). Was dieses Modell
der Grundbedürfnisse, das aus der Friedensforschung stammt, auszeichnet: es ist
aus Recherchen auch außerhalb der nördlichen Industriestaaten zustande
gekommen, und die Bedürfnisse werden nicht einer vorgegebenen Hierarchie eingeordnet.
Die vier Grundbedürfnisse sind gleichrangig und der Konflikt schon ins Modell
eingezeichnet. Überleben und Wohlergehen (dazu gehört z.B. Nähe und Beziehung) können
mit Freiheit und Identität in Konflikt geraten. So ist für manche Identität
oder Freiheit wichtiger als Überleben oder Wohlergehen. Freiheit und
Wohlergehen können zum Verzicht auf Identitätszuschreibungen führen, usw.
(Graf/Kramer/Nicolescu 2010)
Wenn für Angehörige von „Risikogruppen“ von Staats wegen Isolierung
angeordnet wird, dann kann dies zwar das Überleben sichern, aber alle anderen
Grundbedürfnisse werden in den Hintergrundgedrängt. Wohlergehen, Freiheit und persönliche
Identität können dadurch sosehr beeinträchtigt werden, dass die angeordnete
Sicherheit den Wunsch nach Überleben erdrückt.
Dazu kommen gesellschaftliche Ordnungssysteme. Wenn das Virus vor allem
in Alters- und Pflegeheimen zu massenweisen Ansteckungen und Todesfällen
führte, dann legt sich der Gedanke nahe, dass hier schon vor dem Auftreten der
Pandemie berechtigte Grundbedürfnisse unter dem Motiv des „Schutzes“ und
„Pflege“ zum Ziel des Überlebens nicht beachtet wurden. Der Verdacht liegt
nahe, dass es in diesen Institutionen neben diesen Motiven de facto auch ums
Ausgrenzen und Aufbewahren von gesellschaftlich „Unbrauchbaren“ geht.
Solidarität ist nicht identitär
Darf Solidarität mit „Ausgegrenzten“ und „Unbrauchbaren“
sein? Wer sind diese? Oder auch anders, politischer gefragt: darf Solidarität
an Bedingungen des Identitären und das heißt an Verfahren der Ausgrenzung
geknüpft werden? Das Gleichnis vom
„Barmherzigen Samariter“ (Luk 10.25-37) verneint diese identitäre Zumutung. Der
Helfende in der Erzählung, der Mann aus Samaria, ist selbst ein Ausgegrenzter,
der sich tatkräftig und ohne weiter zu fragen um den kümmert, der Hilfe
braucht. Die anderen, auf ihre Identitäten bedacht, gehen an dem Mann, der
unter die Räuber fiel, vorbei und lassen ihn liegen. Die Geschichte aus dem
Lukas-Evangelium ist ein historisch wirkungsvolles Modell für mögliches
solidarisches Handeln, bis heute.
Solidarität bedeutet: „Hilfe für den, der Hilfe braucht“ –
dieser Grundsatz richtet sich gegen jegliche Formen von ausgrenzendem,
identitärem Verhalten. Hilfe braucht, wessen Überleben bedroht ist; aber auch
wenn das Wohlergehen, die Freiheit oder die Identität bedroht sind, ist Hilfe
angebracht. Auch kann die solidarische Unterstützung nicht von
nationalstaatlichen Grenzen beschränkt werden. Weder Viren noch
Klimakatastrophen respektieren Nationalstaatsgrenzen. Es ist Aufgabe des
Staates, seine Bürger zu schützen, doch, so der Ethiker Stefan Gosepath: „Der
Staat schützt seine Bürger nicht gut, wenn dieser Schutz auf Kosten anderer
geht. Denn was ist, wenn wir mal auf fremde Hilfe angewiesen sind? Wer springt
dann ein?“ (https://www.zeit.de/campus/2020-04/corona-krise-kontaktsperre-moralphilosophie-stefan-gosepath)
Recht auf Leben haben nicht nur europäischen Bürgerinnen und
Bürgern zu oder allgemeiner Menschen aus wohlhabenderen Weltgegenden. Auch jene
9 Millionen Menschen, die jährlich verhungern, hatten ein Recht auf
Leben, das ihnen aber verwehrt wurde. Jährlich stirbt zudem rund eine
halbe Million Menschen an Malaria, jährlich einer weitere halbe Million
Menschen an AIDS (zum Vergleich: bis Mitte Mai starben rund 300 000 Menschen an
Covid-19, statistisch gesehen ein einmaliges Ereignis).
Solidarität global
„Solidaritas“ ist ein juristischer Begriff aus dem römischen
Recht und bedeutete: wenn einer in der Familie Schulden macht, bürgt die ganze
Familie dafür, und umgekehrt, also „einer für alle, alle für einen“. Politisch wurde das Wort als Motto der
Französischen Revolution liberté, egalité, solidarité – erst später wurde Solidarität durch
Brüderlichkeit, fraternité ersetzt. Danach wurde Solidarität zu einer Maxime
der wechselseitigen Unterstützung im politischen Kampf gegen Ungerechtigkeiten
in der Arbeitswelt.
Von Arbeitslosigkeit infolge des Virus sind laut ILO
weltweit 2,7 Milliarden Menschen betroffen. Die weit überwiegende Mehrheit, rund
2 Milliarden sind im informellen Sektor beschäftigt und leben in den Ländern
des globalen Südens, rund 630 Millionen Menschen verdienten auch vor dem Virus nicht
genug, um ihre Familien zu ernähren. Viele dieser Personen arbeiten in Zulieferbetriebe
für die Industriestaaten – bricht etwa in diesen Staaten die Nachfrage nach Blumen
oder Textilien ein, müssen die Kinder der Textilarbeiterin in Dhaka, Bangladesh
oder des Landarbeiters in Kenia hungern, weil ihre Eltern die Arbeit verloren
haben. Für alle diese Menschen ist die Gefahr weniger der Virus als der Hunger.
Nach Schätzungen des World Food Program wird sich infolge der Covid-19-Krise
die Zahl der Hungernden verdoppeln und auf mehr als eine Viertelmilliarde
Menschen anwachsen.
Gesellschaftliche Veränderungen, die auf ein neues
Verhältnis von Erwerbsarbeit und Konsum zielen – „weniger ist mehr“,
Postwachstumsgesellschaft etc. – müssen alle diese Entwicklungen
berücksichtigen.
In den Industriestaaten wurden infolge des Virus Arbeits-
und Konsumwelt in einem Ausmaß „heruntergefahren“, das bis vor kurzem noch als
unmöglich galt. Es wäre also möglich,
anders und nachhaltiger zu wirtschaften, wie viele angesichts der Klimakrise fordern. Vor allem steht die gesellschaftliche
Vorstellung von Arbeit am Prüfstand: ist Arbeit nur wertvoll, wenn sie etwas
produziert, das Geld wert ist? Wie
wichtig ist Care-Arbeit – die fürsorgende, pflegende, auf den Zusammenhalt der
Gemeinschaft bezogene Tätigkeit? Durch den Lockdown wurde plötzlich deutlich,
dass „strukturrelevante“ Tätigkeiten vor allem im Niedriglohnsektor angesiedelt
sind – Manager verdienen das mehr als 70fache (DIE
ZEIT Nr. 29/2018). In einer solidarischen Gesellschaft könnte man von
einer gleichmäßigeren Verteilung von Einkommen und Vermögen ausgehen. In der
Krise werden auch die Rufe nach dem Grundeinkommen lauter.
Gutes Leben für alle, auch die Natur
Eine solidarische Neuorganisation von Arbeit und Konsum wird
ohne kulturellen Wandel nicht auskommen. In einer globalisierten Welt können
die wechselseitigen Abhängigkeiten nicht vernachlässigt werden. Ein Modell von
Gerechtigkeit und Wechselseitigkeit, in dem sowohl Natur als auch Menschen gut
leben, und dies auf einer demokratischen Basis, findet sich in dem Ideal von buen
vivir, dem Guten Leben (Acosta 2015). In manchen Staaten
Lateinamerikas ist buen vivir bereits Teil der Verfassung. Damit ist ein
erster Schritt getan, doch viele Weitere müssen folgen. Solidarität global
bedeutet nicht mehr und nicht weniger als das Modell des “Imperialen Lebens“
(Brand/Wisser 2017) zu verabschieden zugunsten einer gerechteren Welt. Solidarität
bedeutet in diesem Sinn auch: Mut zur Utopie.
Das Virus, das als statistischer Akteur bisherige
Lebenswelten erschüttert, ist eine Mutation, entstanden durch den zu engen
Kontakt zwischen Menschen und Tieren, so die sogar von Geheimdiensten
bestätigte Hypothese. Wissenschaftler haben schon vor mehreren Jahren vor
Pandemien durch Mutanten-Viren gewarnt. Die Primatenforscherin und engagierte
Ökologin Jane Goodall hat in einem Video (https://www.youtube.com/watch?v=9kZN3wX41zc)
drauf aufmerksam gemacht, dass dies kein Zufall ist, sondern die Folge der
ökonomischen Über-Nutzung von natürlichen Räumen. Menschen verdrängen die Tiere
und nehmen ihnen Lebensraum weg – jede Straße zerschneidet natürliche Habitate
und lässt Tiere leiden. Solidarität betrifft nicht nur Menschen, sondern auch
andere Lebewesen und genau genommen die Natur im Ganzen. Debatten über die
Eigenrechte der Natur sind aus dieser Perspektive keine romantischen
Überlegungen, sondern berühren grundlegende Fragen, wie Menschen als Naturwesen
so leben können, dass sie nicht die Natur und damit sich selbst zerstören.
Nichts ist gewiss, nur der Tod
Der Staat hat die Aufgabe, die BürgerInnen zu schützen: doch
kann kein Staat Menschen vor dem Tod schützen. Der Tod ist keine Krankheit –
auch wenn Menschen auch an Krankheiten sterben können. Ein solides Gesundheitssystem
und angemessenes Krisenmanagement können Menschen vor Erkrankung durch das
Virus schützen. Wo das nicht der Fall ist, wie etwa zur Zeit in Brasilien,
müssen Menschen sterben, weil der Staat nicht verantwortungsvoll Vorsorge
getroffen hat. Dass die Virus-Erkrankung länderübergreifend vor allem in
Altersheimen tödlich verlaufen ist, lässt viele Fragen offen. Wenn – wie in
Frankreich geschehen – die Palliativ-Medizin zur Triage genutzt wird, ist das
nicht Solidarität, sondern Barbarei.
Auf der anderen Seite müssen wir alle sterben, ohne
Ausnahme. Bewusst mit Tod und Sterben umgehen zu können, ist ein
Charakteristikum menschlichen Lebens und menschlicher Kultur. „Du stirbst
nicht, weil du krank bist, du stirbst, weil du lebst“, schreibt Michel de
Montaigne in seinen „Essais“ (1585). Die „Kunst des Sterbens“ haben die
Industriegesellschaften aus den Augen verloren. Man könnte sie suchen, dort, wo
die „Kunst des Lebens“ zu finden ist. Da ist noch viel zu lernen über Freiheit
von Angst und Freiheit zur Liebe.
Literatur:
Acosta, Alberto, Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben,
oekom Verlag, München 2015
Brand, Ulrich/Wisser, Markus, Imperiale Lebensweise, oekom
Verlag, München 2017
Galtung, Johan, Menschenrechte –
anders gesehen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1998
Graf, Wilfried/Kramer, Gudrun/Niculescu, Augustin (2010): Complexity
Thinking as a Meta- Framework for Conflict Transformation. In Search of a
Paradigm and a Methodology for a Transformative Culture of Peace. In:
Ratkovij, Viktorija/Wintersteiner, Werner [Hg]: Yearbook PeaceCulture 2010.
Alpen-Adria Universität, Centre for Peace Research and Peace Education. Klagenfurt:Drava, 58-81.105
Höffe, Otfried, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, C.H. Beck
Verlag, München 1999
Die Autorin: Ursula
Baatz, Dr., Philosophin, Religionswissenschaftlerin, Achtsamkeitslehrerin und Wissenschaftsjournalistin, Wien Kontakt: ursula.baatz_at_univie.ac.at